Ich oute mich. Ich bin Bayern-Fan. Ich weiß, dass das für viele nicht unbedingt der sympathischste Verein der Welt ist. Mehrmals habe ich schon überlegt, Gladbach- oder Bremen-Fan zu werden. Aber man kann seinen Verein nicht einfach so wechseln wie eine Unterhose. Finde ich zumindest.
Als mein ältester Sohn vor knapp zehn Jahren in den Kindergarten kam, wurde er BVB-Fan. Das lag an dem enthusiastischen Kindergartenleiter und daran, dass ich nicht ein „Ich-mache-jetzt-auch-meinen-Sohn-zum-Bayern-Fan“-Vater sein wollte (mein zweiter Sohn ist dennoch Bayern-Fan geworden). Der Kindergarten begann damals eine Kooperation mit BaKoS, einer frisch gegründeten Osnabrücker Ballschule. BaKos möchte Kindern erst einmal ein breites Angebot bieten, damit diese sich nicht zu früh auf eine Sportart festlegen. Eine schöne Sache. Wir meldeten unseren Sohn an.
Bayern-Profi im Kindergarten
Und dann fiel ich aus allen Wolken. Als BaKoS-Trainer kam kein geringerer als Stefan Wessels in den Kindergarten spaziert. Der Mann, der jahrelang die Nummer Zwei im Bayern-Tor hinter Oliver Kahn war. Der Mann, der 1999 gegen die Glasgow Rangers im Alter von 20 Jahren als bis dato jüngster Torwart ever in der Champions League auflief, da sich Kahn und andere Bayern-Torhüter verletzt hatten. Der Mann, der im Kader verschiedener Jugendnationalmannschaften und auch im Perspektivteam für die WM 2006 in Deutschland stand. Der Mann, der nach seiner Zeit bei den Bayern lange das Tor des 1. FC Köln hütete und später auch eine Saison beim VfL Osnabrück zwischen den Pfosten stand. Donnerwetter! Ich war aufgeregt wie damals als Grundschüler, als ich einmal ein Autogramm von Pierre Littbarski (wir hatten denselben Friseur – kein Witz!) ergattern wollte.
Foto: Privat
BaKoS-Trainer Wessels hatte 2012 seine aktive Karriere, die von vielen Aufs und Abs geprägt war, beendet und BaKoS gegründet. Wir haben uns einige Male unterhalten, uns in all den Jahren hier und da gesehen, Osnabrück ist nicht allzu groß. Er kennt meinen Sohn nach all den Jahren immer noch mit Namen, was ich bemerkenswert finde.
Fast zehn Jahre nach der Kindergartenepisode treffe ich Stefan Wessels für „Sportlich unterwegs“ an der Illoshöhe, Trainingsareal des VfL Osnabrück. Ich habe im Vorfeld überlegt, worüber ich mit ihm sprechen möchte. Das ist gar nicht so einfach, da es etliche spannende Erlebnisse und Stationen im Leben des heute 41-Jährigen gibt, der beim TuS Lingen als Torwart reifte, früh ins Visier vieler Vereine geriet, sich aber entschied, erst einmal Abitur zu machen, und dann zu den großen Bayern wechselte.
Weltenbummler
11Freunde, Bild, Sportbild, Kicker, NOZ und andere Blätter haben schon über so vieles aus Wessels‘ Leben berichtet. Über sein schönes Karriereende im dänischen Odense (mit Champions-League-Qualifikationsspielen). Über seine vorherigen Erfolge in Basel, sein nicht ganz rundes Jahr beim VfL, sein Jahr in Everton, über seine Jahre und Verletzungen in Köln sowie seine Erfolge mit den Bayern. Beeindruckend ist seine Trikotsammlung im Keller seines Osnabrücker Hauses:
Ich habe gelesen, dass Sepp Maier, der ihn in München trainierte, sein Idol war, dass er in jeder Trainingseinheit mit Oliver Kahn viel gelernt hat („es war ein ordentliches Verhältnis“). Und dass er heute zufrieden auf seine Karriere zurückblickt („Ich habe einen Traum gelebt“), obwohl er sich phasenweise als arbeitsloser Kicker im Camp der Vereinigung der Vertragsfußballspieler fit hielt, so wie es auch WM-Held Mario Götze im Sommer 2020 tat.
Ich entscheide mich aber dafür, mit Stefan Wessels über sein Leben für den Ballsport und als Jugendtrainer zu sprechen. An dem Tag, an dem die Bayern abends im Halbfinale der Champions League gegen Lyon gewinnen werden, absolviert die U14 des VfL Osnabrück ein Testspiel. Wir setzen uns auf eine Wiese am Spielfeldrand. Den Kasten des VfL hütet heute Wessels‘ älterer Sohn Felix. Auch Wessels zweiter Sohn, Jonas, ist Torwart beim VfL. Dass die Söhne beim Fußball gelandet sind, habe er nicht forciert, sagt er. Beide hätten auch die Ballschule BaKoS durchlaufen und somit Vielfalt kennengerlernt.
Ballschulgründer
Gut neun Jahre nach Gründung bespaßt BaKoS wöchentlich mehr als 600 Kinder in Vereinen, Schulen, Kindergärten und auf Bolzplätzen. Wessels und seine Frau ziehen die Strippen. Sie können aus einem Pool von 15 bis 25 Trainern schöpfen, meist Lehramtsstudenten. BaKoS ist kein Anti-Fußball-Verein, aber im Vordergrund steht die Philosophie, dass es in der Welt des Sports weit mehr als Fußball gibt und für Kinder bereichernd ist, vieles auszuprobieren. Doch wie kommt ein Mann wie Wessels, dessen Leben lange Zeit im Zeichen des Fußballs stand, an eine solche Sache, die er heute als „mein Baby“ bezeichnet?
Mitte 2010, Wessels hat nach seiner Zeit in Basel keinen Verein gefunden, fängt Sohn Felix als Dreijähriger in Osnabrück an zu kicken. Der Verein klopft bei Stefan Wessels an und fragt, ob er Trainer der Minis werden möchte. „Ich hatte Lust. Aber ich hatte keinen Plan, wie man mit Kindern arbeitet“, erinnert sich Wessels. Er telefoniert mit seiner Cousine, die in Bremen lebt. Sie erzählt ihm von der Heidelberger Ballschule, die auch längst an der Weser fußgefasst habe. Werder Bremen mische mit, auch der heutige VfL-Trainer Marco Grote. Wessels macht sich schlau, verfeinert das Fußballtraining der Jüngsten hin zum allgemeinen Programm mit Bällen. Dann muss oder darf er selbst wieder ins Tor, unterschreibt einen Vertrag bei Odense BK und nimmt die Ballsport-Idee mit nach Dänemark. Die Ausbildung zum Ballschultrainer hatte er da schon absolviert. In Odense bietet er nun einmal pro Woche ein Ballschulprogramm für Kinder an.
Der Vertrag in Odense läuft aus, die Wessels entscheiden sich, in Osnabrück Wurzeln zu schlagen. Die Heidelberger Ballschule, die expandieren möchte, erteilt dem Torwart die Genehmigung, etwas in der Hasestadt aufzubauen. Aller Anfang ist schwer. „Ich habe viele Vereine angeschrieben. Doch insbesondere Fußballer schauten skeptisch auf mein Vorhaben. Sie hatten die große Sorge, dass ihnen am Ende Spieler für die eigene G-Jugend fehlen“, so Wessels. Letztlich lässt sich zunächst nur der Osnabrücker Turnerbund (OTB) auf das Experiment ein. Und ein Osnabrücker Kindergarten, in den Wessels fortan einmal pro Woche ein Netz mit vielen Bällen und weiteres Equipment schleppt. Die Kinder – auch mein Sohn – lieben den ehemaligen Bayern-Torwart, obwohl viele damals den BVB anhimmeln. Sie entdecken spielerisch die Welt des Sports für sich. Sie merken schnell, dass man Bälle nicht nur mit dem Fuß bewegen kann.
Breit aufgestellt
In den folgenden Jahren wächst BaKoS. Fußball ist oft erste Sportart junger Menschen, aber nicht jedermanns Sache und früh sehr leistungsorientiert und daher selektierend. Einige Fußballvereine der Region melden sich bei Wessels und stellen sich der Realität. Denn sie wissen, dass viele Fußballer in der D-Jugend das Handtuch werfen. Weil es zu leistungsorientiert ist. Oder weil Fußball doch nicht ihr Ding ist. Oder weil irgendwelche Teenager-Sachen wichtiger sind. Die Vereine sehen in Wessels nun nicht mehr einen Anti-Fußballer, sondern einen Verbündeten, vielleicht auch einen Pionier, der junge Menschen für Sport begeistert. „Nach wie vor landen doch viele nach der Ballschule beim Fußball, aber sie sind dann vielleicht etwas breiter aufgestellt“, sagt Wessels.
Er ist bei BaKoS angestellt. Leben könnte er von dem Gehalt nicht. Das muss er auch nicht. In den Profijahren hat er gut verdient. Und BaKoS ist nur eines von vielen Standbeinen. Er ist im Nachwuchsleistungszentrum des VfL Osnabrück als Torwarttrainer (U11 bis U13) angestellt. Darüber hinaus gehört er zum Trainerstab der U18-Nationalmannschaft. Die Jugendlichen begleitet er drei Jahre lang. Für die Lila-Weißen steht er mindestens an zwei Tagen pro Woche auf dem Platz. Für den DFB sind es immer wieder Trainingslager, dann ist Wessels auch schon mal zehn Tage weg. „Smartphone und Laptop machen es möglich, dass ich mich dann aber in jeder freien Minute auch um BaKoS kümmern kann“, sagt er – ein Leben zwischen vielen verschiedenen Bällen.
Wessels freut sich, dass die Idee der Ballschule mittlerweile von einigen Vereinen und Verbänden adaptiert wird. Er ärgert sich aber, wenn bspw. ein Tennisverband dann doch zu plump „abschreibt“ und das Ganze dann als eigene Idee verkauft. Kritisch blickt er darauf, wie früh heutzutage Fußballtalente abgeworben und manchmal auch verheizt werden. Der Wessels-Weg – erst Abitur, dann großer Verein – ist heute eher die Ausnahme. Heute werden Spieler mit 13, 14 Jahren von großen Vereinen verpflichtet, in Internaten ausgebildet oder von den Eltern stundenlang zu Trainings gefahren.
Wessels‘ Söhne sind nicht untalentiert als Torhüter. Was macht der Papa, wenn einer der beiden in seine Fußstapfen treten und Profi-Torwart werden will? „Wenn einer meiner Söhne das möchte, dann werde ich ihn natürlich unterstützen. Ich blicke gern und zufrieden auf meine Profikarriere zurück, auch wenn es Krisen gab. Letztlich kriegen meine Söhne aber immer meine Unterstützung, egal was sie machen wollen!“ Wer weiß, vielleicht wird einer der Sprösslinge ja auch noch Handball-, Basketball- oder Tennisspieler.
Die Story über die Stefan Wessels haben wir in der dritten Ausgabe unseres Magazins „Sportlich unterwegs“ veröffentlicht.
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