Zwei eher unscheinbare Schilder an der Iburger Straße in Osnabrück weisen den Weg zu Krokodilen. Der Zoo ist nicht weit entfernt, aber die Reptilien haben nichts mit ihm zu tun. Sie haben vielmehr etwas mit Gürteln, Anzügen, Würfen und Haltegriffen zu tun. Sie stehen für die Judo Crocodiles Osnabrück, einer regionalen Kampfsport-Hochburg, die weit über die Stadtgrenzen Osnabrücks hinaus bekannt ist, aber in den lokalen Medien eher stiefmütterlich behandelt wird – so zumindest sehen es viele Krokodile. Judoka, die bei den Crocodiles geformt wurden, haben schon bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften geglänzt.
Biegt man von der Iburger Straße ab, weisen weitere Schilder den Weg zur Judohalle. Über dem Eingang steht „Landesleistungszentrum“ und „Judo für Kinder ab 4 Jahre“. Bei meinem ersten Besuch im August 2020 herrscht draußen Hochsommer; seit Tagen Temperaturen über 30 Grad Celsius. Entsprechend aufgeheizt ist die Halle. Auf den gelben und blauen Judomatten findet das U15-Stützpunkt-Training statt. Da die Crocodiles auch das Landesleistungszentrum beheimaten, trainieren hier nicht nur Talente aus Osnabrück und dem Landkreis.
Die Judoka kommen auch aus Bielefeld, Höxter, Hameln, Minden, Münster und Oldenburg. Mütter und Väter warten in der Halle, schauen zu, unterhalten sich. Sie nehmen die langen Fahrzeiten gleich mehrmals pro Woche in Kauf, weil hier das faire, aber leistungsorientierte Miteinander vorgelebt und auf sehr hohem Niveau trainiert wird. Und vermutlich träumen die Eltern auch von einer Judokarriere der eigenen Sprösslinge. Karrieren wie die von den Krokodilen Julia Matijass und Oliver Gussenberg, deren erfolgreiche Teilnahmen an Olympischen Spielen auf gerahmten Fotos im Gang zu den Umkleidekabinen gewürdigt werden.
Daniel, 15 Jahre alt, aus Wietmarschen übt an diesem Abend Wurftechniken mit Thore, 16, aus Diepholz. Abwechselnd pfeffern sie sich gegenseitig auf die Matte. Mittendrin ist Teja Ahlmeyer, das Ober-Krokodil. Als ich die Crocodiles etwa eine Woche vorher angeschrieben habe, antwortete er mir per E-Mail: „Bei mir sind Sie genau richtig. Ich mache eigentlich die ganze Öffentlichkeitsarbeit für unseren Verein und bin Vorsitzender, Geschäftsführer und Chef-Trainer in Personalunion.“
Talente aus der Region
Teja Ahlmeyer geht immer wieder zu einigen der kämpfenden Paare, gibt ruhig Hinweise. Es folgen Anweisungen für alle und der japanische Ruf „Hajime“, anfangen! Eine neue Übungseinheit beginnt. Wenig später sitze ich mit Teja Ahlmeyer, 38 Jahre alt, in einem Vorraum. Landestrainerin Andrea Goslar übernimmt in der Halle das Training. Auch Landestrainer Jürgen Füchtmeyer, 63, der Mann, der die Krokodile gegründet hat, steht in seinem weißen Judoanzug auf der Matte. Im Judo gelangt man durch theoretische und praktische Prüfungen vom weißen Gürtel über Gelb, Orange, Grün, Blau und Braun zum schwarzen Gürtel, der nochmals in Meistergrade (Dan) unterteilt ist. Laut Prüfungsprogramm des Deutschen Judo-Bundes (DJB) gibt es fünf Dan-Grade mit schwarzem Gürtel; weitere fünf mit rot-weißen Gürteln werden ehrenhalber vergeben. Ahlmeyer, so vermeldeten die Crocodiles im Februar 2018, erhielt den vierten Dan vom Niedersächsischen Judo-Verband für „seine Verdienste um den Judosport in Niedersachsen“.
Dabei fing alles vor vielen Jahren in Nordrhein-Westfalen an. Teja Ahlmeyer wächst im westfälischen Bünde auf. Als Knirps stecken die Eltern ihn in einen Fußballverein. „Sie haben mir teure Fußballschuhe gekauft. Nach dem dritten Training hatte ich aber keine Lust mehr“, erinnert sich Ahlmeyer. Über seine beiden älteren Cousins gelangte er zum Judo.
„Ich war ein Spätzünder. Erst mit 14 habe ich für mich Judo als Leistungssport entdeckt“, erzählt Ahlmeyer. Er wird als Teenager in den NRW-Kader berufen. Doch das Training findet im etwa 220 Kilometer entfernten Köln statt. Mit 17 wagt Ahlmeyer einen damals verpönten, heute für viele ostwestfälische junge Judoka nicht mehr ungewöhnlichen Schritt. Er geht über die Landesgrenze und trainiert fortan im niedersächsischen Leistungszentrum bei den Crocodiles in Osnabrück, 40 Kilometer von Bünde entfernt. Der Beginn einer besonderen Beziehung.
Ahlmeyers Anfänge in NRW
Nach seinem Abitur absolviert Ahlmeyer seinen Zivildienst – bei den Crocodiles. Er baut diverse Trainingsgruppen auf. Es folgt ein Studium der Sportwissenschaften mit Schwerpunkt Gesundheit und Management in Bielefeld. „Für mein eigenes Training bin ich jedoch immer zu den Crocodiles gefahren.“ Nach Trainerstationen auf Landesebene in Nordrhein-Westfalen landet Ahlmeyer 2009 in Osnabrück, als hauptamtlicher Trainer, angestellt beim Förderverein zur Förderung des Judosports in der Region Osnabrück/Westfalen. Er lebte lange in unmittelbarer Nähe zur Judo-Halle an der Iburger Straße, wohnt mittlerweile aber in Melle.
Jungs wie Daniel aus Wietmarschen und Thore aus Diepholz, deren Training nun vorbei ist, schätzen Teja Ahlmeyer sehr. „Er ist sehr zielstrebig und streng. Er fördert uns sehr“, sagt Thore anerkennend. „So lange, bis wir richtig fertig sind“, wirft Daniel ein. „Während der Corona-Zeit hat er uns sogar Einzel-Außentrainings angeboten“, ergänzt Thore. Natürlich unter Einhaltung aller „Corona-Vorschriften“. Beide Jungs kommen aus Regionen, in denen es kaum Judoka auf ihrem Niveau gibt. „Nach Osnabrück kommen viele gute Kämpfer in meiner Alters- und Gewichtsklasse, mit denen ich auch befreundet bin“, sagt Thore, der über seinen Bruder zum Judo kam. Daniel ist familiär vorbelastet. Sein Vater und auch sein Opa banden bereits die Judogürtel und liebten die japanische Kampfsportart. Viele der jungen Athleten kommen aus solchen Judo-Familien, von denen es unter den Crocodiles einige sportlich sehr erfolgreiche gibt.
Da sind zum Beispiel die Matijass. Julia Matijass wurde 1973 in der Sowjetunion geboren. Sie gehörte 1994 dem russischen Nationalkader an, wurde ausgeschlossen und dann von Jürgen Füchtmeyer, der dem Bundestrainerstab angehörte, zu den Crocodiles nach Osnabrück geholt. 1999 erhielt sie die deutsche Staatsbürgerschaft wurde mehrfach deutsche Meisterin und 2000 EM-Dritte. Vier Jahre später gewann sie bei den Olympischen Spielen in Athen die Bronzemedaille in der Gewichtsklasse bis 48 Kilogramm. Schenkt man Wikipedia Glauben, so war dies überhaupt erst die dritte olympischen Medaille einer deutschen Judokämpferin. Auch ihr Sohn Martin, gefördert vom eigenen Vater, kämpfte lange in den Reihen der Crocodiles. 2013 wurde er Dritter bei der U18-EM, erzählt Teja Ahlmeyer, der ihn damals trainierte. Martin Matijass konnte später bei den Herren für verschiedene Mannschaften einige Erfolge einfahren, auch auf internationaler Ebene.
Der Name Gussenberg steht ebenso für Judo-Erfolgsgeschichte. 1997 wurde Oliver Gussenberg Deutscher Meister im Superleichtgewicht bis 60 Kilogramm. Dies gelang ihm insgesamt sieben Mal. Bei den Weltmeisterschaften 2003 in Osaka erkämpfte er Platz 5, bei den Olympischen Sommerspielen in Athen 2004 wurde er Siebter. Ehefrau Nina wurde Dritte bei den Deutschen Meisterschaften; Tochter Jana holte 2017 als 17-Jährige bei den U18-Weltmeisterschaften in Chile Bronze, zuvor strich sie bereits Bronze bei der EM in Litauen ein. Und dann?
Teja Ahlmeyer verzieht das Gesicht: Der Deutsche Judo-Bund habe schon einige Karrieren aufgehalten. Das sei aber nicht nur im Judo so, sondern in vielen Sportarten. Wer nach dem Abitur als Judoka zu Olympischen Spielen fahren und in der Nationalmannschaft sein möchte, muss sich einem Bundesstützpunkt anschließen. Ein erfolgreiches Krokodil müsse dann beispielsweise in Köln oder Hannover trainieren. Jana Gussenberg, so Ahlmeyer, sei in unserer Region sehr verwurzelt und habe sich deswegen dagegen entschieden, an einen Bundesstützpunkt zu wechseln. Sie unterstützt heute die Jugendarbeit der Crocodiles. „Früher hatten wir hier im Erwachsenenbereich bis zu zehn Bundeskader-Athleten auf der Matte. Das ist heute wegen dieser Stützpunkt-Regelung nicht mehr möglich“, sagt Trainer Ahlmeyer.
Krokodile im Würgegriff
Sollten Daniel aus Wietmarschen und Thore aus Diepholz also weiter erfolgreich sein – bei Deutschen Meisterschaften waren sie bereits Fünfter bzw. Dritter –, wird man auch sie mit Ende ihrer Zeit in den Jugendklassen in den Würgegriff nehmen: Training bei den Crocodiles oder Bundesstützpunkt? Sie müssen sich dann entscheiden.
Wer so erfolgreich sein möchte wie Daniel und Thore, muss mit vielen Einschränkungen leben. Das ist so im Spitzensport, auch schon im Jugendbereich. Da sind nicht nur die langen Fahrtzeiten und vielen Trainingseinheiten. Auch die Herausforderung, Schule und Sport unter einen Hut zu bringen, und die Ernährung spielen eine große Rolle. Im Judo geht es oft darum, seine Gewichtsklasse am oberen Limit zu halten, um nicht in die nächsthöhere Gewichtsklasse zu rutschen.
Das ist vermutlich die Kehrseite der Medaille, wenn man in einer, wie es Jürgen Füchtmeyer so nennt, „Judo-Fabrik“ geschliffen wird. Die Erfolge sprechen für die teilweise harte Vorgehensweise, für Selbstdisziplin und knackige Trainingseinheiten. Ahlmeyer, ehemals Bundesligakämpfer und selbst mehrfach norddeutscher Meister und Deutscher Meister mit der Mannschaft, kann etliche Erfolge seiner Schützlinge aus den vergangenen Jahren aufzählen: Neben den Erfolgen von Jana Gussenberg sind da Clarissa Taube (U21-Bronze bei WM und EM), Lea Püschel (EM-Bronze U21) und Greta Bolte (Deutsche Meisterin 2020) zu nennen.
Noch beeindruckender ist das, was Crocodiles-Gründer Jürgen Füchtmeyer, der 2011 einen Teil seiner Aufgaben, unter anderem den Vereinsvorsitz, in die Hände von Ahlmeyer legte, als Trainer aufzuweisen hat. Mit 13 wurde Füchtmeyer Judoka in den Reihen des Osnabrücker SC. Vorher hatte er schon alle möglichen Sportarten betrieben, doch beim Judo passte es sofort. „Der frühe Erfolg hat mich damals motiviert“, sagt er, der heute Crocodiles-Ehrenpräsident und Landestrainer am Stützpunkt in Osnabrück ist. 1980 – Teja Ahlmeyer ist damals noch nicht geboren – gründet Füchtmeyer mit einigen anderen die Judokampfgemeinschaft Osnabrück, aus der später die Crocodiles hervorgehen. „Wir wollten das Leistungssportliche in den Vordergrund rücken“, so Füchtmeyer.
Medaillensammler
„Was mit der Nutzung städtischer Hallenzeiten auf einigen wenigen gebrauchten Matten begann, hat sich zum Judo-Landesleistungszentrum des Landes Niedersachsen und zu einem der erfolgreichsten deutschen Vereine, mit mittlerweile eigener Trainingsstätte, entwickelt“, heißt es auf der Homepage. Der sechsfache Gewinn des Deutschen Meistertitels in der 1. Bundesliga der Frauen, etliche Deutsche Einzel-Meistertitel und Medaillen bei Weltturnieren sind unter Federführung Füchtmeyers zu verbuchen. Er hat über Jahrzehnte als Trainer gewirkt, beispielsweise die deutschen Athletinnen 1988 in Seoul bei den Olympischen Spielen betreut und „im Ausland schon manchen Judoka zum Millionär gemacht“, schrieb die Zeitung „taz“ 2004.
Gemessen an Titeln und Erfolgen dürfte Füchtmeyer einer der erfolgreichsten, wenn nicht sogar der erfolgreichste Sporttrainer unserer Region sein. Und trotzdem fristet Judo in der öffentlichen Wahrnehmung auch in Osnabrück nur ein Nischendasein, auch wenn die Crocodiles selbst von sich behaupten, „zu einer festen Größe in der Osnabrücker Sportlandschaft mit einem enormen Bekanntheitsgrad“ geworden zu sein. Füchtmeyer sieht das Problem generell beim Judo. „Es ist schwierig, die Leute für diese Sportart zu begeistern. Die Regeln ändern sich zu oft, die japanischen Ausdrücke sind zu kompliziert“, sagt er. In vielen Sportarten – Fußball, Handball, Tennis – sei die Zählweise schnell zu verstehen. Der Stadionsprecher verkündet ein 1:0 im Fußball, der Stuhlschiedsrichter gibt beim Tennis ein 30:15 an – beim Judo hantiert man mit Waza-Ari und Ippon; früher gab es noch weitere Wertungen. Gelegentlich wurden einfache Punktsysteme eingeführt, aber offenbar nicht konsequent genug.
Füchtmeyer ist nicht der Mann, der deswegen den Kopf in den Sand steckt. Teja Ahlmeyer auch nicht. Sie werden weiter für ihre Sportart kämpfen und junge Talente fördern. Was in all den Jahren auf die Beine gestellt wurde, ist beeindruckend. Das Landesleistungszentrum umfasst die 600 Quadratmeter große Judohalle und einen fast genauso großen Kraft- und Fitnessbereich mit einigen Kooperationspartnern der Crocodiles. Hier trainieren die Krokodile Seite an Seite mit den Fußballern des VfL Osnabrück. Und auch das älteste Vereinsmitglied der Crocodiles, stolze 95 Jahre alt, hält sich hier fit, während zeitgleich in der Judohalle mögliche Stars von morgen, nämlich vierjährige Judoka, trainieren.
Fotos: Sven Reddig / Tobias Romberg
Die Story über die Crocodiles haben wir in der dritten Ausgabe unseres Magazins veröffentlicht.
Infos zu den Crocodiles: Crocodiles – Home (jc-os.de)