Einmal reitet Pippi Langstrumpf mit ihrem Pferd namens Kleiner Onkel zur Schule, platzt verspätet in den Unterricht und sorgt für viel Heiterkeit. Man kann sich gut vorstellen, dass die angehende Lehrerin Lisa Röckener am liebsten auch mit ihrem Pferd Valoo zur Schule kommen würde. Denn Lisa Röckeners Bindung zu Valoo ist mindestens genau so stark wie die von Pippi zu ihrem Kleinen Onkel.
Das hat auch mit einem Reitunfall zu tun, der Lisa Röckeners Leben auf den Kopf gestellt hat und sie letztlich auch zu dem gemacht hat, was sie heute ist: Eine erfolgreiche Showreiterin, Trainerin, Buchautorin, Influencerin. Allein bei Instagram folgen ihr mittlerweile mehr als 140.000 Menschen. Das sind in etwa so viele Menschen, wie in die ausverkaufen Stadien von Borussia Dortmund und Schalke 04 an einem Spieltag passen würden. Oder fast so viele wie Osnabrück Einwohner hat.
Die fast märchenhafte Geschichte von Lisa Röckener spielt allerdings nicht in Osnabrück, sondern im Norden des Landkreises, in der Nähe von Ankum, genauer: in Kettenkamp. An einem kalten Samstag im März fahre ich zum Reiterhof der Röckeners. Man muss einige Wiesen und Felder hinter sich lassen, um dort hinzukommen. Mich begrüßen die beiden Hunde Momba, ein Golden Doodle, und Kluntje, ein kleiner, frecher Irgendwas. Und dann winkt mir schon Lisas Mutter Kathrin. Jene Frau, so steht es in Lisas kürzlich erschienenen Buch „Mein Leben mit den Pferden“, die einst in den vielleicht schwierigsten Tagen im Leben von Lisa schon wieder das Positive sah und der Tochter sagte, „dass dieser Unfall für irgendetwas gut gewesen sei“. Lisa, für die damals im Krankenhaus der Traum von einer Teilnahme an der Europameisterschaft im Vielseitigkeitsreiten platzte, konnte diese mütterlichen Worte zunächst nicht verstehen.
Joggen, füttern, unterrichten
Bei Instagram habe ich gesehen, dass Lisa an diesem Morgen schon bei Eiseskälte joggen war, Pferde gefüttert und als Referendarin den gesamten Unterricht für die nächste Woche geplant hat.
Mutter Röckener öffnet eine Tür zum idyllischen Garten, Hühner und Schafe auf einer Wiese, eine Katze streunt umher, angrenzend eine Pferdekoppel, auf der Humpfrey, Vite Valoo, sein Bruder Voody Wood sowie Fiddle, Jack und Cody, der kaum größer als der Golden Doodle ist, leben. Lisa ist mitten unter ihnen, unbeschwert lachend, das Handy in der Hand. Sie postet etwas in ihre Insta-Story. Die Community will dabei sein. Am liebsten rund um die Uhr.
Wenig später sitzen wir im Wohnzimmer der Röckeners, große Fenster, Blick auf die Tierwelt im Garten. Lisa lebt schon seit einigen Jahren nicht mehr bei ihren Eltern. Aber hier ist dennoch ihr Lebensmittelpunkt, ein stückweit ihr Arbeitsplatz, ihre Oase. Und hier wartet vor allem Wallach Valoo, ein Hannoveraner, der für Lisa mehr als nur ein Pferd ist. „Ich zeige mit meiner Arbeit, dass ein Pferd nicht nur ein Sportgerät ist, sondern auch Sportpartner sein kann“, sagt sie und dann lerne ich einiges über „Horsemanship“, jene Reitkunst, die auf den fairen Umgang mit Pferden setzt.
Reitunfall verändert alles
Ich habe mit Pferden bisher nicht viel am Hut gehabt. Ich habe mal über Paul Schockemöhle und das vor einiger Zeit verstorbene „Wunderpferd“ Totilas geschrieben. Die Tage, an denen ich auf einem Pferd saß, kann man an einer Hand abzählen. Meistens war ich heilfroh, wenn der „Spaß“, den meine Eltern hinter diese Sache für mich vermuteten, vorbei war. Doch genau das erklärt vielleicht auch das Phänomen Lisa Röckener. Denn trotz meines – sagen wir mal – distanzierten Verhältnisses zu den Vierbeinern, hat mich Lisa, deren Vater Hufschmied ist, in ihren Bann gezogen. Ich schaue mir regelmäßig ihre Insta-Stories an und erlebe, wie sie golft, joggt, reitet und sie insgesamt zehn Pferde der Familie Röckener wie gute Freunde behandelt. Sie ist dabei authentisch, nichts wirkt aufgesetzt, auch nicht dann, wenn sie Produkte von Werbepartnern präsentiert. Ich folge ihr und ihrem Alltag fast so fasziniert, wie ich vor 20 Jahren der Lindenstraße allsonntäglich folgte.
Lisa Röckener, 26 Jahre alt, war einst eine talentierte Vielseitigkeitsreiterin. Sie gehörte dem Perspektivkader an und hatte eine EM-Teilnahme fest im Blick. Doch dann veränderte ein Reitunfall im Mai 2012 ihr Leben. Lisa war damals mit ihrem Pferd Humpfrey im Gelände unterwegs. „Ich trug meine harte Weste, eine zusätzliche Airbag-Weste und auch Humpfrey war so geschützt, wie es sein sollte“, erinnert sich Lisa, während sie aus dem Wohnzimmerfenster der Röckeners schaut. Nur einige hundert Meter vom Haus entfernt wollte sie damals mit Humpfrey über ein wenig spektakuläres Hindernis springen, einen querliegenden Baumstamm, etwas mehr als hüfthoch. Aber irgendetwas läuft schief. Es kommt zu einem Rotationssturz. Bei solchen Stürzen sind schon Vielseitigkeitsreiter gestorben. Das Pferd bleibt an einem Hindernis hängen, überschlägt sich und kann auf den Reiter fallen. Auch Humpfrey, mehr als 600 Kilogramm schwer, stürzt auf Lisa Röckener.
Bruder Matthes kommt ins Wohnzimmer, er hört uns kurz zu. Er kann sich an die „Mama-Schreie“ der Schwester noch allzu gut erinnern. Die Mama habe diese nicht gehört, aber Papa Martin ist damals sofort zur Tochter gerannt. Wenig später fuhr der Vater mit seiner Tochter ins Krankenhaus, die Mama brachte Humpfrey in die Tierklinik. Das Tier blutete am Bauch. Humpfrey und Lisa hatten Glück im Unglück. Sie trägt etliche Prellungen davon, zudem ist das linke Schlüsselbein gebrochen. Alles verheilt in den nächsten Wochen. Was weitaus schlimmer ist: Lisa hat nun Angst beim Reiten. Eine Angst, die sie nicht mehr loswird. Eine Angst, die sich auch auf Humpfrey überträgt. Das Vertrauen zueinander ist nicht mehr so wie früher. Lisa ist frustriert. Sie pausiert. Etwas Unvorstellbares zeichnet sich ab: Lisa wendet sich vom Turniersport ab. Sie beginnt ihr Lehramtsstudium der Fächer Sport und Chemie, kümmert sich aber nach wie vor um ihre Pferde. Dann reift in ihr der Entschluss, mit einem neuen Pferd alles besser zu machen.
Fünf Buchstaben, die viel verändern
„Durch einen Tierarzt erfuhren wir, dass etwa eineinhalb Stunden von uns entfernt ein dreijähriger Wallach zum Verkauf stand“, schreibt Lisa in einem ihrer Bücher. Am 9. November 2014 notiert sie im Tagebuch: „Wir haben uns Valentin angeguckt und uns sofort verliebt.“ Die Röckeners kaufen Valentin. Er wird umbenannt: Vite Valoo, kurz: Valoo. Fünf Buchstaben, die für viel Veränderung im Leben von Lisa und auch für Erfolg stehen. Sie arbeitet sehr behutsam mit Valoo und lässt anfangs per Facebook und später mit Instagram eine wachsende Fangemeinde teilhaben. Am 19. Februar 2015 schreibt Lisa ins Tagebuch: „WOW!!! Valoo wird anscheinend doch ein Vielseitigkeitspferd. Heute haben wir das erste Mal im Gelände trainiert. Ins Wasser reiten, ein ganz kleiner Tiefsprung, Wellenbahn und Wellenbahn mit Auf- und Absprung … ich bin echt beeindruckt! Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß im Gelände und vor allem so ein gutes Gefühl.“ Lisa setzt auf behutsame Bodenarbeit und Gelassenheitstraining.
Was folgt, klingt kitschig und filmreif. 2016 gewannen Valoo und Lisa den Talentwettbewerb bei der Baltic Horse Show. Seitdem treten sie bei vielen großen Shows auf. Sie springen gemeinsam Seil und begeistern das Publikum. Halsringreiten und viel Freiarbeit stehen im Vordergrund. Die Pandemie hat vieles unterbrochen, aber die Auftritte werden wiederkommen. Auch die international erfolgreiche Dressur- und Vielseitigkeitsreiterin Ingrid Klimke ritt bereits Valoo und ist sehr angetan von der Lockerheit zwischen Valoo und Lisa, ihrer Partnerschaft und ihrem grenzenlosen Vertrauen.
Lisas Familie unterstützt und stützt an vielen Stellen. Die Karriere der Tochter ist ein Familienprojekt und Lisa eine clevere Geschäftsfrau. Sie wird gebucht, sie coacht, sie trainiert, sie geht bei Instagram Kooperationen mit Firmen ein und wirkt als Influencerin – auch wenn sie das Wort nicht mag. Doch der Erfolg hat Schattenseiten. „Ich kriege schon einige blöde Nachrichten“, erzählt sie. Neulich hat sie sogar ein Coaching absolviert, um zu lernen, wie man mit „Hate Speech“ umgeht.
Lisas Tage sind pickepackevoll. Sie ist als Lehrerin im Referendariat voll eingebunden. Sie arbeitet mit ihren Pferden. Sie ist für ihre Instagram-Community da. Sie joggt. Sie golft, nimmt an Celebrity-Turnieren teil. Sie hat kürzlich sogar mit anderen einen Golfclub gegründet. Sie hat seit zwei Jahren einen Freund – er ist ihr Ruhepol. Demnächst will sie als Lehrerin mit voller Stelle arbeiten, denn sie liebt auch diesen Beruf. Und „nebenbei“ soll die Sache mit den Pferden irgendwie weiterlaufen. Atemberaubende Pläne. Mal schauen, ob sich diese alle unter einen Hut bzw. eine Reitkappe bringen lassen werden. Humpfrey, Valoo, Voody und die anderen werden auf jeden Fall Lisas Aufmerksamkeit einfordern.
Fotos: Tobias Romberg, Marie Schwertmann, Yvonne Voß