Als Fahrlehrer Stefan Eggert vor knapp vier Jahren wieder einmal durch die Gegend fuhr und Radio hörte, traute er seinen Ohren nicht. Ein FFN-Moderator plauderte über eine Sportart, von der Eggert noch nie gehört hatte. Und das will bei Eggert schon was heißen. Denn der heute 54-Jährige lebt für den Sport. Er hat im Alter von acht Jahren mit Handball angefangen und war viele Jahre lang Jugendtrainer bei der TSG Dissen. Eggert hat auch ein Faible für Randsportarten, er hat schon vieles ausprobiert.
Im Radio sprachen sie damals von einem Sport, der mit einem Ball gespielt wird, der fast die Ausmaße einer Waschmaschine hat und schweineteuer ist: Kin-Ball. Kaum hatte Eggert damals das Auto abgestellt, recherchierte er und war elektrisiert.
Vier Jahre später ist Dissen eine von zehn Kin-Ball-Hochburgen in Deutschland, die sich in einer eigenen Bundesliga messen. Das ist Eggerts Schuld. Also nicht das mit der Bundesliga, sondern das Dissen zur Spitze einer boomenden Mannschaftssportart gehört, bei der nicht zwei, sondern drei Teams gegeneinander antreten.
„Wir haben fünf Nationalspieler in unseren Reihen“, hatte mir Eggert stolz am Telefon erzählt. Nun stehe ich in der Halle und sehe viele Kinder und einige Erwachsene, die in der Aufwärmphase, nachdem sie sich in einer akrobatisch aussehenden Formation aufgestellt haben, gegen einen großen pinken Ball schlagen und treten. Ist der Ball in der Luft, wird es hektisch. Er darf den Boden nicht berühren. Es ist so ähnlich wie das „Der-Luftballon-darf-den-Boden-nicht-berühren-Spiel“, das ich in meiner Kindheit stundenlang mit meinem Bruder im Wohnzimmer gespielt habe.
„Heute ist leider schon ein Ball geplatzt. Das passiert sonst fast nie“, sagt Eggert. „Vermutlich liegt das am Reporter, der heute zu Besuch ist“, schiebt der Kin-Ball-Trainer schmunzelnd hinterher. Doch ganz so witzig ist das angesichts des Preises für einen Kin-Ball (gut 500 Euro) und dem knappen Budget, das Nischensportgruppen wie die von Eggert haben, dann doch nicht.
Eggert hat in jüngster Zeit immer mal wieder Grundschulen besucht, um Kin-Ball vorzustellen. In Ortschaften, nicht weit von Dissen entfernt, haben sich Gruppen gebildet. Heute treffen die Nachwuchsspieler auf die jungen Menschen, die Kin-Ball in Dissen mit Eggerts Hilfe groß gemacht haben. Zwei Nationalspieler sind beim Training dabei: Eggerts 19-jähriger Sohn Linus und Laura Tetzel. „Mir gefällt sehr gut, dass es eine gemischte Mannschaftssportart ist und man coole Rettungsaktionen durchführen kann“, sagt Laura. Sie hatte damals, als Stefan Eggert anfing, die Werbetrommel zu rühren, einen Insta-Post gesehen und dann beim Kin-Ball reingeschnuppert. „Das passte bei mir sehr gut. Ich habe bis dahin Fußball gespielt. Aber meine Mannschaft hat sich leider aufgelöst“, so die 21-Jährige, die Grundschullehrerin werden möchte. Was Laura mit coolen Rettungsaktionen meint, kann ich wenig später live sehen. Spieler springen durch die Luft, grätschen (Slide) oder machen Fallrückzieher ähnliche Bewegungen, um zu verhindern, dass der große pinke Ball auf den Boden kommt.
Zeit die Regeln zu erklären: Beim Kin-Ball treten drei Mannschaften mit jeweils vier Spielern in einem etwa 20 mal 20 Meter großen Spielfeld gegeneinander an. Eine Mannschaft beginnt mit einem Aufschlag, an dem alle Spieler in den Ball haltender Position beteiligt sind, im Zentrum des Feldes. Noch vor dem Aufschlag schreit jemand aus dem Team, an welches Team sich der Aufschlag richtet. Dieses Team muss den Kin-Ball dann sichern und kann dann ebenfalls einen Aufschlag ausführen. Prallt der Ball auf den Boden, gibt es jeweils einen Punkt für die beiden anderen Teams.
„Omnikin noir“, ruft nun jemand vom aufschlagenden Team in der Dissener Sporthalle. Omnikin ist der quasi-monopolistische Ballhersteller dieser Nischensportart. Und noir steht für „Schwarz“ im Französischen. Zudem gibt es ein blaues und ein graues Team. Die französischen Bezeichnungen haben sich durchgesetzt, da die Sportart Mitte der 1980er-Jahre von einem Sportlehrer im kanadischen Quebec erfunden wurde. Gespielt werden meistens Sätze bis elf. Ab einer bestimmten Stelle im Satz scheidet die Mannschaft mit den wenigsten Punkten aus, so dass sich bis zum Satzende nur noch zwei Teams duellieren. Im folgenden Satz sind dann aber wieder alle Mannschaften dabei. Vier Gewinnsätze sind üblich. Für einen Aufschlag hat ein Team lediglich zehn Sekunden Zeit.
In der Bundesliga, in der die TSG Dissen mitspielt, muss mindestens jeweils ein Mann und eine Frau auf dem Feld stehen. In der vergangenen Saison fanden insgesamt vier Spieltage statt. Einer in Erfurt, einer in München, einer in Stuttgart und einer in Dissen. Die Kin-Baller aus dem Osnabrücker Land konnten sich letztlich im Mittelfeld der Tabelle festsetzen.
Für insgesamt fünf Spielerinnen und Spieler steht Ende des Jahres ein großes Highlight bevor: Neben Linus und Laura zählen Elias Köhlker sowie Lea und Jana Kuntze zur Nationalmannschaft. Sie werden zur EM nach Spanien reisen. Für Luise Sandfort hat es ganz knapp nicht gereicht, mit etwas Glück kann sie noch als Nachrückerin auf den EM-Zug aufspringen.
„Wir haben hier schon eine Menge auf die Beine gestellt.“
Stefan Eggert, Abteilungsleiter und Kin-Ball-Pionier
Stefan Eggert ist stolz auf seine Kin-Baller: „Wir haben hier schon eine Menge auf die Beine gestellt. Und wie bei so vielen Nischensportarten ist die Stimmung hier in Dissen, aber auch im Austausch mit den anderen Bundesligisten sehr familiär. Wir sind schon eine eigene Community.“ Eggert hofft, noch einige Sponsoren für Kin-Ball in Dissen zu finden. Das ist auch dringend notwendig. Einen Großteil der Kosten für die EM in Spanien müssen die Teilnehmer selbst aufbringen. Es gibt zwar Unterstützung vom Deutschen Kin-Ball Verband, dem Kreissportbund Osnabrück-Land und der TSG Dissen – aber das reicht noch längst nicht aus. Und im nächsten Jahr könnte es für einige Kin-Baller noch spektakulärer und somit auch teurer werden: 2024 findet die Kin.Ball-WM in Südkorea statt – ziemlich sicher mit einigen Spielern aus Dissen.
Kin-Ball begeistert in der Region um Dissen schon einige. Das sieht man bereits beim altersgemischten Training in Dissen. Viele Kinder spielen Kin-Ball mit großem Einsatz. „Oft sind das Kinder, die noch nicht die passende Sportart für sich gefunden haben oder aber eine zweite Sportart machen wollen“, sagt Trainer Stefan Eggert. Immer wieder bewirbt der Fahrlehrer seine Sportart. „Wer bei mir in er Fahrschule mehrmals das Auto abwürgt, gewinnt ein Probetraining“, erzählt Eggert lachend. Er will seine Sportart noch populärer machen. Sein Sohn Linus unterstützt ihn. Er wird vielleicht bald eine Kin-Ball-AG in seiner ehemaligen Oberschule in Bad Laer anbieten. Mal schauen, ob die Kin-Ball-Begeisterung noch weiter in den Landkreis oder die Stadt Osnabrück schwappt.
Text: Tobias Romberg / Videos, Fotos: TSG Dissen, Tobias Romberg