Er saß am Rand. In seinem Rollstuhl. Und schaute den anderen Jugendlichen beim Tanzen zu. Und dann passierte etwas, was Erik Machens heute, gut 20 Jahre später, als einen Schlüsselmoment bezeichnet. Ida und Agnieszka, zwei Teenager aus Schweden und Polen, die ebenso wie Erik an einer internationalen Jugendbegegnung teilnahmen, kamen auf ihn zu. Wenig später bewegt er sich mit den beiden auf der Tanzfläche. „Die haben mir gezeigt, dass ich im Rollstuhl tanzen kann“, erinnert sich Erik Machens, der damals in die 11. Klasse ging.
Der 37-Jährige wurde in Hannover geboren, mit einem offenen Rücken (spina bifida), einer Fehlbildung der Wirbelsäule und des Rückenmarks, die dazu führt, dass er auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Seine Mutter habe sehr dafür gekämpft, dass er einen „normalen“ Kindergarten und eine „normale“ Grundschule besuchen durfte. „Sie wollte, dass ich im Regelbetrieb groß werde. Es gab aber vereinzelt Widerstand. Heute weiß ich, dass es daran lag, dass viele noch keinen Bezug zu dem Thema ‚Menschen mit Behinderungen‘ hatten und deswegen vielleicht überfordert waren“, sagt Erik Machens. Die Mutter wollte für ihren Sohn einfach nur so viel Normalität wie möglich.
Doch was ist eigentlich normal? Fußballspieler, die Millionen verdienen? Ein heterosexuelles Pärchen? Ein Promi, der sich in irgendwelchen Verschwörungstheorien verliert? Eine Mormonin? Ein erfolgreicher Unternehmer? Eine Olympiafavoritin, die dem Druck nicht standhält? Ein Radsportfunktionär, der sich rassistisch äußert? Ein Lehrer mit Reihenendhaus? Eine Punkerin, die gegen alles ist? Ein Selbstversorger? Eine Schauspielerin? Ein Mann, der Kakteen sammelt? Eine Frau, die mit ihrer Katze redet? Ein Fußgänger?
Der Mensch klassifiziert gern. Wir denken oft in Schubladen. Das erleichtert vieles, verstört aber immer wieder. Und so ist es auch gar nicht so leicht, die Geschichte von Erik Machens aufzuschreiben, ohne Klischees zu bedienen und Begriffe zu verwenden, die andere verletzen könnten. Erik Machens selbst spricht von Fußgängern und Rollstuhlnutzern, nicht von „Normalen“ und „Behinderten“. Er scherzt viel, nennt sich zwischendurch selbst „native behindert“ und überrascht mit Aussagen wie dieser: „Ich freue mich jeden Morgen, wenn ich in mein exakt auf mich abgestimmtes Sportgerät steigen kann.“ Machens meint seinen Rollstuhl, der knapp fünf Kilogramm wiegt.
Es ist der Rollstuhl eines Europameisters und Vize-Weltmeisters. Denn das Tanzen, das einst mit Ida und Agnieszka begann, hat Machens, der als Student nach Osnabrück zog, in seinen Bann gezogen. Und auch an dieser Stelle könnte man schon wieder diskutieren, ob man ihn einen Rollstuhltänzer oder „nur“ einen Tänzer nennt. Ob man klassifiziert oder eben nicht. Seine Erfolge feiert er jedenfalls in der Sportart Rollstuhltanz, in der es verschiedene Kategorien gibt.
Als Student in Osnabrück, zu Beginn des Jahrtausends, fährt Machens ab und zu in die Diskothek Alando, um zu feiern und tanzen. Meistens allein. Mutig. Bewundernswert. Vielen Blicken ausgesetzt. „Alles, was man im Leben braucht, sind Ignoranz und Selbstvertrauen, hat der Schriftsteller Mark Twain gesagt. Und dieser Satz beschreibt gut, wie ich Ängste und Hürden überwinde“, erklärt er.
Eines Abends spricht ihn im Alando die Inhaberin einer Osnabrücker Tanzschule an. Sie fragt ihn, ob er an einem integrativen Musical mitwirken möchte. Machens ist dabei. Seine Tanzpartnerin im Musical, die ebenfalls im Rollstuhl sitzt, empfiehlt ihm nach der Aufführung, an einem Rollstuhltanzsport-Workshop teilzunehmen. Machens zögert. Erst kurz vor Beginn des Workshops meldet er sich an. Was dann passiert, klingt nach reichlich Kitsch, nach einem kometenhaften Aufstieg eines Sporttalents. Der Leiter des Workshops ist Bundestrainer, erkennt bei Machens und Partnerin Potenzial und lädt die beiden zum Kadertraining ein. Ein Jahr später, 2010, gewinnen die beiden Bronze bei der Rollstuhltanz-WM in Hannover, in Machens Heimatstadt. Im selben Jahr werden Machens und seiner Partnerin auch Deutsche Meister (Standard und Latein). 2013 löst sich das Erfolgsduo auf, die Partnerin zieht nach Innsbruck. Seitdem tritt Machens als Solotänzer an und sammelte weitere Titel, so auch den des Europameisters. „Ich würde gern eine Fußgängerin als Tanzpartnerin für die sogenannten Kombi-Tänze bei Meisterschaften haben. Aber bisher habe ich keine gefunden“, sagt Machens.
Im August 2021 sitzt er in einer alten Sporthalle in Osnabrück-Voxtrup. Sie ist die Trainingsstätte der Tänzerinnen und Tänzer, die sich unter dem Dach des Osnabrücker SC organisiert haben. Die Türen zur Halle quietschen. In den Fluren ältere Zeitungsartikel von jungen, erfolgreichen Tänzerinnen und Tänzern. Der Parkettboden der Halle erinnert an Tanzsäle der 1960er-Jahre. Die Hallendecke ist holzvertäfelt. Einige Banner, die teilweise schon Buchstaben verloren haben, bewerben den Tanzsport im OSC. Erik Machens hievt sich aus seinem Rollstuhl, setzt sich auf den Boden und wird in den nächsten Minuten andere, für den Tanzsport geeignetere Reifen an seinen Rollstuhl montieren.
„Ich bin froh, dass ich hier seit 2018 trainieren darf“, sagt er. Neben seinen persönlichen Trainingseinheiten fährt er hin und wieder, insbesondere vor Großturnieren, nach Kerkrade und München, um mit seinen Trainern Ton Greten und Rudi Grabon zu arbeiten. „Letztlich ist das aber auch eine finanzielle Frage, da ich die Trainingsstunden selbst bezahlen muss“.Erik Machens trägt an diesem Vormittag eine Trainingsjacke, die vorne den Bundesadler und hinten den Schriftzug „Germany“ ziert. Seit seinem ersten Kadertraining im Jahr 2009 gehört er der Nationalmannschaft an, die bei Europa- und Weltmeisterschaften die Teilnahme-, Übernachtungs- und Fahrtkosten sowie Kosten für Leistungslehrgänge der Kaderathleten übernimmt. Um alles andere muss sich Machens selbst kümmern. Leben kann er nicht von seiner Sportart. Seit einigen Jahren hat er mit der GHD GesundHeits GmbH Deutschland einen Sponsor, für den er bloggt und der ihm etwas unter die Arme greift. Auch Let’s Dance – Tanzsportartikel aus Bremen unterstützt ihn.
Der Rollstuhltänzer hatte einst ein Jurastudium begonnen, sich dann aber für ein Lehramtsstudium (Deutsch/Kunst) entschieden, um wenig später auf Grafikdesign umzuschwenken. Heute arbeitet er in einem großen Call-Center und nimmt gelegentlich Designaufträge an. Seit einigen Monaten ist Machens Mitglied des Vorstands der Sportjugend Niedersachsen. Zudem leitet er in Rheine, Bad Harzburg und – seit Kurzem – auch in Osnabrück Rollstuhltanzsportgruppen. Nebenbei schreibt er einen Blog und absolviert ein Fernstudium „Kommunikationspsychologie“. Ein Tausendsassa, der immer offen für neue Herausforderungen ist und sich der Inklusion verschrieben hat. „Die Grundeinstellung in unserer Gesellschaft ist schon in Ordnung. Aber letztlich könnte jeder Einzelne noch etwas mehr tun, um den Dialog von Menschen mit Einschränkungen und Menschen, die überzeugt sind, keine Einschränkung zu haben, zu fördern.“
Machens fängt für das Fotoshooting mit „Sportlich unterwegs“ an zu tanzen. Ausdrucksstark, schnell, akrobatisch. Jede Bewegung sitzt. Mimik und Gestik gestochen scharf. Nach dem Tanz muss er kurz durchschnaufen. Lockdowns und Sportverletzungen haben ihm etwas zugesetzt. Sein letztes Großturnier war die WM 2019 in Bonn. Er, der Europameister, kam mit zwei Bronzemedaillen nach Hause. Doch er wollte Gold. Der Ehrgeiz treibt ihn deshalb weiter an. Er hofft, dass er 2022 wieder ins Turniergeschehen eingreifen kann. Die Weltmeisterschaft Ende 2021 muss er aufgrund einer Verletzung leider noch sausen lassen.
Erik Machens trainiert montags von 18:15 bis 19:15 Uhr eine Rollstuhltanzsportgruppe im Osnabrücker SC. Teilnehmen können Fußgänger und Rollstuhlnutzer. Anmeldungen: info@10dances4wheels.de
Hier findet Ihr den Blog von Erik Machens:
www.gesundheitsgmbh.de/blogs/erik-machens-darf-ich-bitten
Dieser Text stammt aus der fünften Ausgabe von „Sportlich unterwegs“, die wir Ende Oktober 2021 aus der Druckerei geholt haben. Die Ausgabe liegt in Osnabrück und im Osnabrücker Land an gut frequentierten Orten (Tankstellen, Supermärkte, etc.) aus und wird an viele Sportvereine der Region per Post versendet.
Text: Tobias Romberg / Fotos: Eva Pavía – World Para Dance Sport‘ (2), Tobias Romberg